Die Möglichkeit der Umkehr des gelernten Nichtgebrauchs (learned non-use) nach Schlaganfall

Datum: 7. Januar 2018
Autor: Björn Stritzinger

Bei schlaganfallbedingten Paresen wird durch gezielte, lernpsychologisch begründete Trainingsmaßnahmen direkt auf die pathologisch veränderte neuronale Repräsentation einer geschädigten Extremität Einfluss genommen. Kommt es innerhalb einer cerebralen Hemisphäre zu einer regional begrenzten Mangelversorgung mit Sauerstoff, also einem «Insult» (stroke), führt dieses in der Regel zur Lähmung der kontralateralen Extremität. Edward Taub [1976; 1980] zeigte jedoch, dass ein langfristiger Ausfall der Motorik keine alleinige Folge der neurogenen Schädigung, sondern darüber hinaus das Ergebnis eines Lernprozesses ist. So konnte bei nichthumanen Primaten nachgewiesen werden, dass sich die nach experimenteller Läsion einer Extremität einstellende Lähmung sehr viel schneller zurückbildet, wenn die gesunde Extremität noch während der Narkose mechanisch immobilisiert wurde. Bereits nach 3 Monaten waren die Funktionen des deafferentierten Arms dauerhaft restituiert [Taub, 2012].

Die Erklärung hierfür liegt im gelernten Nichtgebrauch: ist eine Extremität in ihrer Funktion eingeschränkt, ist jede Handlung nur mühsam zu vollziehen und führt oft nicht zum gewünschten Erfolg. Um diese «Bestrafung» des Handlungsversuchs zu umgehen, versucht ein Individuum automatisch die Kompensation mit der gesunden Extremität.

Auf diese Weise werden die fehlerhaften Handlungsversuche der geschädigten Extremität umgangen und die Kompensationshandlung damit negativ verstärkt. Als Folge wird sehr schnell gelernt, die geschädigte Extremität nicht und die nichtgeschädigte Extremität kompensatorisch zu nutzen. Die Konsequenz eines langfristigen gelernten Nichtgebrauchs ist wiederum die allmähliche Rückbildung der cerebralen Repräsentation des geschädigten Organs. Gleichzeitig weiten sich die repräsentativen Felder der kompensatorisch eingesetzten Extremität entsprechend aus. Im Ergebnis kommt es zu einer langfristigen Verfestigung der Lähmung – als Folge eines Lernprozesses und nicht als unausweichliche Konsequenz einer neuronalen Schädigung; der Körper hat quasi «vergessen», wie das geschädigte Organ in Funktion gesetzt werden kann. Die neuronale Repräsentation verblasst…

Bereits im Jahre 1904 wurde das Ausmaß einer schlaganfallbedingten Parese vom französischen Neurologen und Charcot-Schüler Henry Meige zumindest teilweise als Folge eines Verlustes des «motorischen Gedächtnisses» aufgefasst. Durch sorgfältige Krankenbeobachtungen gelang es ihm, die Abhängigkeit der Parese auf den postläsionellen Einsatz kognitiver und behavioraler Funktionen zurückzuführen. Meige sprach in diesem Zusammenhang von einer «motorischen Amnesie» [Meige, 1905]. In der englischen Übersetzung heißt es: «Numerous movements that were impossible in the initial stages of the illness subsequently became possible but are not carried out. The hemiplegic does not know them. He has forgotten them» [André et al., 2004]. Im Einzelnen sei die Parese «distinkt von läsioneller Paralyse», die Folge der Bewegungseinschränkung, an einen Lernprozess gekoppelt, mit einer Gedächtnisstörung einhergehend, reversibel und durch motorische Reedukation mit massierter und wiederholter Praxis behandelbar. Letzteres wurde im sogenannten Taubschen Training, dem «Constraint-Induced Movement Training» (CIMT), aufgenommen [Bauder et al., 2001]. Danach muss bei Patienten, bei denen in der geschädigten Extremität noch eine Restbeweglichkeit feststellbar ist, an 12 Tagen über jeweils 90% der Wachzeit die gesunde Extremität mit einer Schiene immobilisiet werden. Gleichzeitig werden sie angehalten, an den Wochentagen täglich 7 (mindestens 3) h intensiv mit dem paretischen Körperteil nach dem Prinzip der Verhaltensformung (shaping) zu trainieren und schrittweise verschiedene Alltagsfunktionen einzuüben [Liepert et al., 2000; Miltner et al., 1999].

Dieses Training erzielt auch noch mehrere Jahre nach dem Apoplex Erfolge, allerdings führt ein früherer Beginn zu besseren Ergebnissen in der Feinmotorik [Lang et al., 2013]. In signifikantem, aber geringerem Ausmaß lässt sich das CIMT auch bei der unteren Extremität [Taub, 2012], bei motorischer Aphasie [Sickert et al., 2014], Balance- und Gangstörungen [Fuzaro et al., 2012] sowie der Cerebralparese des Kindesalters [Sterling et al., 2013] einsetzen. Taub selbst schätzt, dass bei der oberen Extremität 50% aller Schlaganfallpatienten für eine CIMT infrage kommen und eine funktionelle Verbesserung um etwa 50% erwarten können [Taub, 2012].

Bei einer entsprechenden Behandlung schlaganfallbedingter Wortproduktionsstörungen wird ebenfalls nach dem Prinzip der Verhaltensformung vorgegangen. So wird hier nur auf kommunikativ zielführende Lautbildungen positiv reagiert. Damit wird verhindert, dass die Umwelt allmählich die zunächst wenig verständlichen Äußerungen des Schlaganfallpatienten zu deuten lernt, sich somit darauf einstellt und dem Patienten auf diese Weise die Möglichkeit nimmt, seine Sprechfunktion intrinsisch und durch die positiven Reaktionen der sozialen Umwelt auch extrinsisch motiviert zu verbessern.

Nach heutigem Stand ist ein CIMT-Ansatz aber auf jeden Fall durch ein intensives Heimtraining (transfer package) zu ergänzen. Damit sind systematische und tägliche häusliche Verhaltenstrainings gemeint, die mit ansteigendem Schwierigkeitsgrad (shaping) auf «Verträgen» beruhen, die von Symptomtagebüchern, genauen Feststellungen der motorischen Funktionsfähigkeit und Feedback-Einheiten begleitet und über Telefoninterviews kontrolliert werden.

Meige praktizierte bereits einen dem heutigen «massierten Training» (Forced-Use Training; FuT) ähnlichen Ansatz. So hielt er seine Patienten zu regelmäßigem Training an: «We can teach them (…) using exercises adapted to defined goals and repeating these sufficiently, we manage to create these habits of motor associations (…), positive repercussions on both the motor apparatus (…) and the nerve centres and conductors; the organ benefits from exercising the function; finally the patient’s moral is improved» [Meige, 1905; André et al., 2004].

Trotz der seit vielen Jahren nachgewiesenen guten Wirksamkeit des Taubschen Trainings und des seit über 100 Jahren verstandenen Wirkprinzips werden derartige verhaltensmedizinische Interventionen außerhalb von wenigen Universitätseinrichtungen praktisch nicht eingesetzt.

Ein Grund hierfür liegt sicherlich in der sehr aversiven «Constraint»-Komponente, also der Verhaltensunterbindung der gesunden Extremität beim skizzierten CIMT. Allerdings hat die Forschung inzwischen gezeigt, dass der Verhaltensunterbindung eine geringere Bedeutung zukommt als dem gezielten Training der geschädigten Extremität. Hierzu gibt es im Vergleich zu den früheren, die Therapietreue der Patienten stark belastenden Restriktionsmethoden modifizierte Ansätze.

So kann auf die Constraint-Komponente dann verzichtet werden, wenn die situativen Kontingenzen so gesetzt werden, dass die betroffene Extremität genutzt werden muss. Dabei sind negative Verstärkungen durch den kompensatorischen Gebrauch der weniger betroffenen Extremität ebenso auszuschließen wie Bestrafungen von Handlungsversuchen, die mit dem paretischen Glied erfolgen. Der so erzwungene Gebrauch kann durch eine im Vergleich zur mechanischen Immobilisation weniger aversive Inhibition unterstützt werden, wenn die Beweglichkeit und Sensitivität der weniger betroffenen Hand z.B. mit einem Handschuh eingeschränkt wird.

Ein neuerer Ansatz beruht auf der Verwendung einer anästhesierenden Salbe, die an der betroffenen Extremität aufgetragen wird. Eine derartige temporäre funktionelle Deafferentierung (TFD) führt in Kombination mit einer intensiven Shaping-Prozedur in den contralateralen somatosensorischen Feldern offenbar zu einer erhöhten Exitabilität. Weiterhin erfolgt eine Reorganisation der rezeptiven kortikalen Areale, was zu einer verminderten interhemisphärischen Inhibition und damit letztlich zu einer verbesserten motorischen Funktion führt [Sens et al., 2012].

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